Von Weckern und Geweckten

Von Weckern und Geweckten

 

 

 

 

Morgenstund hat Gold im Mund, sagt man. Und doch ist für viele, die noch nicht unter seniler Bettflucht leiden, kein Utensil unliebsamer als der Wecker. Der unbestechliche Wächter reißt unvermittelt aus dem Tiefschlaf, manchmal aus der Traumwelt des Paradieses oder auch der Hölle, je nachdem. Der moderne Mensch des digitalen Zeitalters hat es mittlerweile beinahe schon kalt gestellt, das tickende Morgenmonster mit beißendem Klingelton. Heutzutage entströmen sanfte Liedchen, ein zurückhaltender Ruf des Kuckucks oder ein kaum wahrnehmbarer Vibrierton dem stets griffbereiten Handy am Nachtkasterl – meist ohne Erfolg. Kein Wunder, dass sich die morgendliche Rush Hour etwa in der Wiener U-Bahn gegen 10 Uhr zu verschieben scheint.

 

 

Damit wir den Morgen, den neuen Tag, die neue Chance, eine neue Begegnung, ja das Leben nicht verschlafen, brauchen wir also ganz notwendig den guten alten Wecker. Nämlich jenen, der uns kompromisslos die Augen im jetzt und heute aufmachen lässt und nicht in einer digital geschaffenen Parallel- oder Scheinwelt.

Im Evangelium ruft der Herr Jesus immer wieder zu einer konkreten Wachsamkeit. Besonders deutlich wird das bei Markus 13, 28-36: Der Mensch könnte eigentlich von Natur aus viele Zusammenhänge erkennen und richtig deuten. Es gehört aber wohl zu seiner fragilen Konstitution, dass Blindheit und Taubheit die Wahrnehmung vernebeln selbst für die Gegenwart und das beständig neu Ankommen des Erlösers mitten unter uns, jetzt, hier und heute.

Heilige sind besondere Menschen, sagt man. Dabei ist weniger entscheidend, ob ihre spirituelle Qualifikation und Professionalität von einem Papst zertifiziert wurde, sprich ob sie offiziell ins Register der Heiligen aufgenommen wurden oder nicht. Wichtiger ist die bleibende Nachwirkung ihrer Wachsamkeit, ihr Therapieansatz für eine verschlafene oder betäubte Welt.

Franz von Assisi war so ein ganz Besonderer, sagt man. In einer erkalteten Welt war er hellhörig und hellsichtig geworden für die verborgene Nähe Gottes. Die Begegnung mit dem Aussätzigen vor den Stadttoren ließ ihn wie aus einer Art Berauschung erwachen. Was ihn zuvor mit Ekel erfüllte, wurde in der Umarmung des vom Leben und vom Tod Gezeichneten zur Süßigkeit des Leibes und der Seele, heißt es. Im Aussätzigen hatte er nämlich Christus selber umarmen dürfen. Der ganzen Welt wollte Franziskus von da an die verwandelnde Gegenwart Gottes verkünden. Das scheinbar vergessene Kind von Bethlehem wollte er im Krippenspiel von Greccio sinnenhaft in den Herzen der Menschen wieder erwecken.

Heilige können einem auch mächtig auf den Wecker gehen, sagt man. Sie sind kompromisslos, nicht einlullend, klar und direkt - Wecker vom alten Schlag eben. Heute werden solche besonderen Menschen, ihr Weckruf, ihre Grundintention leider oft sehr verkürzt, ihr Leben und ihre Botschaft entschärft. Der Weichspüler diverser Ideologien lässt ihre scharfen Konturen und Profile verblassen. Der heilige Franziskus und seine geistliche Bewegung sind das beste Beispiel dafür.

Naturliebend, tierliebend, friedliebend, Anführer der Armen, Gründer einer verrückten NGO Gruppe, erster Kommunist, erster Grüner, und noch vieles mehr war er, sagt man. Und die Heilige Elisabeth von Thüringen war seinem Beispiel folgend gesellschaftsrevolutionär, mittelalterliche Feministin und erste Sozialistin, sagt man. Vom Herrn Jesus keine Rede mehr …

Eine neue Wachsamkeit für Gott braucht die Welt! Aus meiner Erfahrung als Krankenhausseelsorger wird mir immer deutlicher, dass die Gottesfrage ohne viele Umschweife gestellt werden darf. Es soll wieder mehr um den Inhalt gehen, weniger um den Rahmen. Wen interessieren denn wirklich Statistiken, wie viele Betten es in Ordensspitälern gibt, wie viele Schüler sich in Einrichtungen in katholischer Trägerschaft befinden, wie viele Museen und Archive die Kirche unterhält, und weshalb die Kirche und die Orden deswegen oder dennoch gesellschaftliche Anerkennung zukommen und mit Recht Empfänger staatlicher Förderungen sein sollten? Manchmal gewinnt man den Eindruck, kirchliche Institutionen ersäufen sich selbst wild rudernd in der Rechtfertigung ihrer Lebensberechtigung in einer postmodernen Welt.

Wachsamkeit heißt für mich als Seelsorger heute viel mehr, das Wesen Gottes in der persönlichen Begegnung wach und lebendig zu halten. Jeden, der dem Glauben und der Kirche noch so fern steht, beschäftigen früher oder später die Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach Leid und Tod, nach dem Bleibenden und nach dem größeren Ganzen. Gerade an Schnittstellen des Lebens werden diese Fragen in jedem Menschen lauter und oft auch bedrückender. An diesen Schnittstellen ein waches Ohr, Auge und Herz haben für den einzelnen Menschen mit seiner je persönlichen Geschichte. Nicht große Worte sind gefragt oder vorgefertigte Antworten. Auf das schlichte Mit-Sein kommt es letztlich an, wie Paulus es im Römerbrief ausdrückt: „Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden!“ (Röm 12, 15). Alles weitere liegt bei dem, der Immanuel heißt, Gott mit uns. Er ist hellwach für jeden von uns!


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